Suchen
Human Rights Watch: "Videos zeigen, wie Sicherheitskräfte mit Schrotflinten, Sturmgewehren und Handfeuerwaffen gegen Demonstrierende bei überwiegend friedlichen und oft dicht gedrängten Protesten vorgingen und dabei insgesamt Hunderte Menschen töteten oder verletzten."
In einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch vom 7. Oktober über die gewaltsame Unterdrückung der Bürgerproteste im Iran heißt es u.a.:
Internationaler Druck nötig, um tödliche Gewalt durch Sicherheitskräfte zu beenden
(Beirut) – Die iranischen Behörden gehen rücksichtslos, mit exzessiver und tödlicher Gewalt gegen Menschen vor, die im ganzen Land gegen die Regierung demonstrieren, so Human Rights Watch heute.
Anhand von Videos von Protesten und Interviews mit Zeug*innen und einem Mitglied der Sicherheitskräfte dokumentierte Human Rights Watch zahlreiche Vorfälle, bei denen Sicherheitskräfte in 13 iranischen Städten unrechtmäßig exzessive oder tödliche Gewalt gegen Demonstrierende einsetzten. Videos zeigen, wie Sicherheitskräfte mit Schrotflinten, Sturmgewehren und Handfeuerwaffen gegen Demonstrierende bei überwiegend friedlichen und oft dicht gedrängten Protesten vorgingen und dabei insgesamt Hunderte Menschen töteten oder verletzten. In einigen Fällen wurde auf Menschen geschossen, die weglaufen wollten.
„Die brutale Reaktion der iranischen Behörden auf die Proteste in vielen Städten deutet auf eine koordinierte Aktion der Regierung hin, die kritische Stimmen unter grausamer Missachtung des Lebens zum Schweigen bringen soll“, sagte Tara Sepehri Far, leitende Iran-Forscherin bei Human Rights Watch. „Die vielen Schüsse der Sicherheitskräfte auf Demonstrierende fachen die Wut gegen die korrupte und autokratische Regierung nur weiter an.“
Die Proteste begannen am 16. September 2022, nachdem die 22-jährige Mahsa (Jina) Amini im Gewahrsam der sogenannten iranischen „Sittenpolizei“ gestorben war. Die betroffenen Regierungen sollten zusammenarbeiten, um den Druck auf Iran zu erhöhen und eine unabhängige Untersuchung unter der Leitung der Vereinten Nationen zu den schwerwiegenden Übergriffen während der Proteste einzuleiten und Empfehlungen auszusprechen, wie die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden können.
Human Rights Watch überprüfte 16 in sozialen Medien veröffentlichte Videos, die die Proteste vom 17. bis 22. September zeigen. Zu sehen ist, wie die Polizei und andere Sicherheitskräfte massiv und mit tödlicher Gewalt gegen Demonstrierende in der Hauptstadt Teheran und in den Städten Divandarreh, Garmsar, Hamedan, Kerman, Mashhad, Mehrshahr, Rasht und Shiraz vorgehen. Die Videos zeigen auch, wie Sicherheitskräfte Schusswaffen wie Handfeuerwaffen und Sturmgewehre im Stil von Kalaschnikows einsetzten. Human Rights Watch befragte außerdem fünf Zeug*innen der Übergriffe in Sanandaj, Marivan, Saghez und Mashhad sowie einen Angehörigen der Sicherheitskräfte.
Human Rights Watch analysierte zudem Foto- und Videomaterial, das schwere und manchmal tödliche Verletzungen von Demonstrierenden zeigt. Das tödliche Durchgreifen der Sicherheitskräfte in Zahedan am 30. September und die darauf folgenden Angriffe auf Demonstrierende, unter anderem auf dem Campus der Sharif-Universität in Teheran am 2. Oktober, wurden bei dieser Untersuchung nicht berücksichtigt.
Human Rights Watch hat die Namen von 47 Personen zusammengetragen, die nach Angaben von Menschenrechtsgruppen oder glaubwürdigen Medien bei Protesten getötet wurden, die meisten durch Schüsse. Darunter waren mindestens neun Kinder, zwei davon Mädchen, und sechs Frauen. Laut iranischen Staatsmedien belief sich die Zahl der Todesopfer bis zum 30. September auf rund 60. Sie meldeten auch den Tod von zehn Mitgliedern der Sicherheitskräfte. Die tatsächliche Zahl der Todesopfer unter den Demonstrierenden ist wahrscheinlich wesentlich höher. Die iranischen Behörden unterbrechen in weiten Teilen des Landes immer wieder den Internetzugang und blockieren Messaging-Apps, was die Dokumentation und Verifizierung erschwert.
„Wir hatten uns versammelt, um zu singen, als Sicherheitskräfte auf Motorrädern auf uns zukamen“, sagte eine 35-jährige Frau aus der Stadt Sanandaj über einen Protest, der am 17. September in der Nähe der Gendarmerie (Palästina)-Kreuzung stattfand. „Wir rannten in eine Gasse, sie verfolgten uns und fingen an, Tränengas einzusetzen und einige begannen, zu schießen. Einem Mann hinter uns wurde ins Bein geschossen und er fiel zu Boden. Die Leute schleppten ihn in eine andere Gasse, in das Haus von jemandem. [...] Seine Wunde blutete sehr stark und war sehr tief.“ (…)
Human Rights Watch überprüfte und verifizierte auch vier Videos, auf denen zu sehen ist, wie Sicherheitskräfte auf Menschenmengen von Demonstrierenden schießen, von denen einige fliehen. Mindestens vier Videos zeigen, wie Sicherheitskräfte Schrotflinten verwenden, die mit Munition geladen werden können, die mehrere Gummi- oder Metallkugeln gleichzeitig abfeuert. Ein Mitglied der Sicherheitskräfte bestätigte, dass die Polizeikräfte „in der Regel Winchester-Schrotflinten mit unterschiedlicher Munition – Gummi- oder Metallkugeln – verwenden“.
Eine Frau aus der Stadt Sanandaj sagte, dass die Sicherheitskräfte dort am 21. September mit so genannter „weniger tödlicher“ Munition direkt auf ihren oberen Brustkorb geschossen und ihr oberflächliche Verletzungen zugefügt hätten, als sie sie bat, einen Teenager nicht festzunehmen.
„[Die Sicherheitskräfte] rannten auf einen 13-jährigen Jungen zu, der in der Menge stand“, sagte sie. „Er war so zart und klein, dass er sich nicht einmal wehrte. Er lag im Gras und schützte seinen Kopf, während sie auf ihn einschlugen. Ich schrie ‚Lasst ihn in Ruhe!‘ und bin auf sie zu gerannt. Sie schossen in die Luft und die Leute rannten weg, während sie den Jungen über die Straße schleppten. Während ich rannte, rief ich immer wieder ‚Er ist mein Bruder!‘, weil ich dachte, dass ich damit ihr Mitleid erwecken würde. Ich sah, wie sich ein Polizist umdrehte, sich hinkniete und auf mich zielte. Ich sah das Feuer aus seiner Waffe kommen. Ich bekam Angst und rannte weg. Ich hatte ein brennendes Gefühl, bis ich nach Hause kam und merkte, dass ich in die Brust getroffen wurde.“ (…)
Eine Frau aus der Stadt Saghez in der Provinz Kurdistan berichtete, dass Sicherheitskräfte am 18. September, dem zweiten Tag der Proteste in der Stadt, auf ihre Gruppe von Demonstrierenden schossen, als ihre Freundin filmte, wie Sicherheitskräfte mit Schlagstöcken gegen die Metalltür eines Hauses schlugen. Sie waren gezwungen, in einem nahe gelegenen Haus Zuflucht zu suchen. Sie sagte: „Nach einiger Zeit, als wir uns sicher fühlten, verließen wir das Haus, aber die Sicherheitskräfte versteckten sich hinter den Bäumen am Ende der Straße und begannen von hinten auf uns zu schießen, als wir wegliefen.“ (…)
Auf den Videos ist auch zu sehen, wie Polizeibeamte und andere Mitglieder der Sicherheitskräfte, darunter auch Beamte in Zivil, Seite an Seite mit der Polizei arbeiten und friedliche Demonstrierende und Umstehende mit Schlagstöcken malträtieren, treten und verprügeln. Die Polizeikräfte setzten auch andere Waffen ein, darunter Pfefferspray- und Schreckschusspistolen.
Die 35-jährige Frau sagte, sie habe am 1. Oktober gesehen, wie Sicherheitskräfte eine Gruppe friedlich protestierender Frauen in Sanandaj mit Metallseilen und Schlagstöcken angegriffen hätten. Daraufhin „fingen auch wir an zu protestieren“, sagte sie. „Sie stürmten auf uns und den Rest der Menge zu. ... Eine Person in Zivil schlug auf eine Frau ein. Ich ging nach vorne, beschimpfte ihn und sagte ihm, er solle das lassen. Er kam wieder auf mich zu und schlug mit einem Metallseil auf mich ein. Einer von ihnen packte mich am Hals, als ich wegwollte, und die anderen beiden kamen und schlugen mich ein oder zwei Mal.“ Sie zeigte Fotos von Hämatomen auf ihrem Rücken, Arm und Bauch, die ihren Angaben nach von den Schlägen herrühren. (…)
Seit dem 16. September haben die iranischen Sicherheitskräfte zudem Hunderte von Aktivist*innen, Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen außerhalb der Proteste festgenommen. Dazu gehören Niloufar Hamedi, eine Reporterin der Tageszeitung Shargh Daily, und Elaheh Mohammadi, eine Reporterin der Tageszeitung Hammihan. Beide hatten über den Tod von Mahsa (Jina) Amini berichtetet. Die Familie von Mahsa (Jina) Amini hat um ein unabhängiges medizinisches Gutachten gebeten, um die Todesursache zu klären. (…)